Hunger!
Schlagartig verließ mich der Elan, mit dem ich durch ein nordisches Möbelhaus streifte.
Das Bohren in den Magenwänden wurde immer heftiger. Und keine warme Mahlzeit in Sicht, die eine liebende Freundin, eine gute Mutter oder wenigstens eine miese Firmenkantine zubereiten würde. Im Urlaub war warmes Essen eine Rarität für mich.
Es hatte keinen Zweck, nach Hause zu fahren. Dort wartete eh nur das trockene Brot und die vergammelte Wurst auf mich.
Missmutig stolperte ich an den Ausstellungsstücken vorbei, bis meine Nase den kaum wahrnehmbaren Geruch von Essen aufnahm. Mein Gott, sollten die hier eine .... ?
Sie hatten.
Baguettes ab vierfünfzig, Roastbeef für elffünfzig, ebenso Lachs, Fleischbällchen für siebenneunzig.
Keine große Auswahl. Unsere Firmenkantine bot da mehr: Salatbar, Komponentenessen zum Zusammenstellen mit den Resten vom Vortag, die immer noch zwei Tagen lang angeboten wurden, kam unsere Firmenkantine auf manchmal neun, durch das Aufwärmen zum Teil zerkochte, Hauptgerichte.
Ich zögerte, schnappte mir dann doch ein Tablett. Warum nicht mal schwedische Spezialitäten kosten, wo ich doch sonst auch jede Art ausländischen Essens testete.
"Was darf es sein?"
"Ja, also, ich weiß nicht recht ..."
Ich starrte in die Stahlbehälter, aus denen es dampfte. Manchmal überfiel mich eine furchtbare Unentschlossenheit.
"Wie sieht denn der Lachs aus?"
"Wie soll er schon aussehen", sagte Mutti hinter dem Tresen nüchtern. "Wie Lachs halt aussieht."
"Naja, ich wollte ja nur ..."
"Schauen Sie sich das Bild an. So sieht er aus. Und lassen Sie die anderen mal durch. Sie halten den ganzen Betrieb auf."
"Ohh! Entschuldigung! Gehen Sie ruhig vor."
Während sich eine Familie an mir vorbei schob, sah ich auf die gerahmten Poster an der Kantinenwand. Tatsächlich, da waren die Gerichte abgebildet.
"Köttbullar" törnte mich am meisten an. Zwei Kartoffeln, zehn Fleischbällchen mit Soße, einen Esslöffel roter Johannisbeermarmelade oder Gelee und etwas Petersilie. Siebenneunzig.
Die Familie vor mir bestätigte meinen Entschluss. Fünf mal "Köttbullar" ging über den Tresen.
Statt zu bestellen, als ich dran war, hörte ich mich eine Frage stellen: "Ist das auch echt schwedisches Essen?"
"Ja."
"Mmhh. Aber Sie sind keine Schwedin, oder?"
"Wär ja noch schöner", brummte die Mutti zurück.
"Aber der Koch ist wenigstens Schwede."
"Wie kommen Sie denn darauf?"
"Na bei einem schwedischen Essen."
"Deswegen muss doch der Koch noch lange nicht Schwede sein."
Wie konnte ein Nichtschwede ein echt schwedisches Essen zubereiten? fragte ich mich. Das konnte doch niemals so schmecken als wenn es von einem schwedischen Koch zubereitet worden wäre.
"Wenn ich zu meinem Italiener gehe, habe ich eine italienische Bedienung und echte italienische Köche", entgegnete ich. "Und bei meinem Chinesen sind auch nur Chinesen angestellt und keine Deutschen."
"Wollen Sie nun etwas haben oder nicht?"
Ich meinte eine leichte Gereiztheit feststellen zu können. Die Leute waren so kurz vor Weihnachten alle irgendwie gestresst. Andererseits sah ich nicht ein, Geld für ein schwedisches Essen auszugeben, dass gar kein schwedisches war. Wenn ich zum Chinesen ging, wollte ich ja auch chinesisch essen und nicht auf Deutsch gekocht nach chinesischem Rezept.
Wenn da nur nicht der Hunger gewesen wäre ...
"Aber das Rezept ist wenigstens aus Schweden."
"Das ist aus Schweden."
"Und die Zutaten?"
"Weiß ich nicht. Ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Lassen Sie die Leute mal vorbei."
Mit Elan und gekonnten Handgriffen richtete die Mutti drei Mal "Köttbullar" an.
"O.K. Für mich auch, bitte", sagte ich endlich.
Jetzt ging alles rasend schnell. Die Kartoffeln, zack, die Fleischbällchen, zack, das rote Johannisbeergelee, zack, eine Kelle Soße, zack, der kleine grüne Petersilientupfer, zack.
"Guten Appetit. Der nächste bitte."
Etwas stimmte nicht.
"Moment", begehrte ich auf. "Auf meinem Teller sind aber nur neun Fleischbällchen."
"Na und?"
"Auf dem Bild sind aber zehn Fleischbällchen auf dem Teller. Sie haben mir also einen zu wenig gegeben."
Der Muttityp hinter der Ausgabe, klein und sehr rundlich und im weißen Kittel, sah mich an. Sie würde Verständnis mit einem einsamen Junggesellen haben, der vom Fleisch fiel. Normalerweise weckte ich den fürsorglichen Instinkt jeder nur einigermaßen leidlichen Mutti mittleren Alters, ohne etwas gesagt zu haben. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass dieser Typ Frau spürte, wie schlecht es mir ging. Ich dachte an meine Fleischerei, wo die Frauen mir immer besonders gute Stücken mit den Worten "So jemanden wie Sie können wir doch nicht verhungern lassen" zuschanzten.
"Mehr gibt es nicht."
Ich war sprachlos ob dieser Herzlosigkeit, nein, dieser Ungerechtigkeit.
"Ich bestehe auf zehn Fleischbällchen wie auf dem Foto."
"Sie halten den Betrieb auf", sagte eine Männerstimme hinter mir.
"Ist mir egal", antwortete ich, der Mutti tief in die Augen schauend. "Ich will mein zehntes Fleischbällchen. So wie auf dem Poster."
"Nein."
So fest, wie ihre Stimme klang, hatten sich die Fronten verhärtet. Wie aufbrechen?
"Gute Frau. Wenn Sie sich die Bällchen mal ansehen, die ich auf dem Teller habe und mit denen auf dem Foto vergleichen, ist doch unschwer zu erkennen, dass die Fleischbällchen auf dem Foto größer sind als die auf meinem Teller. Ich müsste also noch ein elftes Bällchen bekommen. Aber darauf verzichte ich. Ich will nur noch ein Zehntes."
"Ich wette, er ist Beamter", sagte die Stimme hinter mir.
"Nee", antwortete eine weitere Stimme, "det isn Korinthenkacker."
"Ist doch klar, dass das Bild vergrößert ist", antwortete die Stimme direkt hinter mir. "Das zeigt doch nicht die wirkliche Größe. Und nun mach hin, andere haben auch Hunger."
"Aber es sind zehn Fleischbällchen abgebildet, nicht neun", knurrte ich wütend.
"Hat er Recht", sagte jemand, nachdem kurz halblautes Zählen zu hören war.
Mutti stand inzwischen mit in die Hüften gestemmten Fäusten da, die Kelle in ihrer rechten Hand wies schräg nach unten und wippte im ungeduldigen Takt.
"Mehr gibt es nicht." Ihre Stimme war rau und dunkel und klang betont neutral.
"Ich gehe nicht ohne mein zehntes Fleischbällchen. Ich habe mir mein Essen nach dem Foto ausgesucht. Sie selbst haben mich darauf hingewiesen. Also will ich mein Essen auch so haben wie auf dem Foto."
"So, wollen Sie!"
Sie verschwand in der Küche, kam kurz darauf zurück mit einer Schere, riss das Foto herunter, schnitt ein Fleischbällchen aus dem Foto und legte es mir auf meinen Teller, mitten in die Soße.
"Bitte, ein Bällchen wie auf dem Foto. Wie ausgesucht. Nur leider nicht dreidimensional. Guten Appetit."